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Datum: 10.04.2014

Spurensuche des Lebenshilfewerks im Kreisarchiv

Wie haben Menschen mit Behinderung während der Zeit des Nationalsozialismus gelebt? Gibt es Unterlagen im Kreisarchiv, die etwas über den Alltag dieser Menschen erzählen? Um diesen Fragen nachzugehen, besuchte die  Workshopgruppe des Lebenshilfewerks Mölln-Hagenow im Rahmen von „Unbequeme Denkmäler“ heute, 10. April 2014 das Kreisarchiv in Ratzeburg.

Cordula Bornefeld; Leiterin des Kreisarchivs sagte dazu: „Die im Kreisarchiv Ratzeburg verwahrten Akten des Kreisgesundheitsamtes aus der Zeit des Nationalsozialismus dokumentieren geradezu in schrecklicher Weise, wie sehr der Alltag eines Behinderten durch die Anwendung des Gesetzes über Erb- und Ehegesundheit geprägt wurde. In Zusammenarbeit mit den Erbgesundheitsgerichten in Lübeck, Hamburg-Altona und Schwerin waren die Gesundheitsämter quasi die Vollstrecker der von den Erbgesundheitsgerichten gefassten Beschlüsse.“

Zu diesen Beschlüssen zählten Zwangssterilisationen zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses, ärztliche Untersuchungen zur Einhaltung der Erb- und Rassenpflege, Sippenfragebögen, aufgrund derer auch in vorherigen Generationen nach Behinderungen gezielt gefragt wurde, um die Weitergabe von Erbkrankheiten zu verhindern. Auch die Ablehnung von Ehestandsdarlehen bei Feststellung einer Beeinträchtigung von Körper oder Geist gehörte dazu. Die Standesämter waren verpflichtet, jedes Aufgebot den Gesundheitsämtern zu melden, damit diese die aktive Kontrolle über eventuell zu treffende Maßnahmen bezüglich der  Einhaltung der Ehegesundheit ausüben konnten. Für jede Eheschließung war eine Eheunbedenklichkeitsbescheinigung durch das Gesundheitsamt erforderlich.

Der Schwerpunkt des Workshops des Lebenshilfewerks liegt auf einer intensiven Auseinandersetzung mit einem Fragebogen als Beispiel dafür, auf welcher Grundlage über das weitere Schicksal der vorgeladenen Person entschieden wurde. Neben gesundheitlichen Aspekten zielten die Fragen auf räumliche Orientierung, Schul- und Allgemeinwissen, sittliche Vorstellungen und Merkfähigkeit ab, anschließend wurde seitens des Arztes die Körperhaltung während der Befragung genau beschrieben. Berücksichtigt man die besondere Atmosphäre einer Prüfsituation - noch dazu in einer Behörde mit völlig unbekannten Personen - kann man sich leicht vorstellen, wie schnell und umfangreich der Befragte verunsichert und eingeschüchtert werden konnte, so dass aus einer ziemlich willkürlichen Situation heraus der weitere Lebensweg zerstört werden konnte.

Auch im Kreis Herzogtum Lauenburg ist die Zwangssterilisation hundertfach vorgekommen. Unfruchtbar gemacht wurden aber nicht nur Behinderte, sondern auch Alkoholiker und Homosexuelle. Außerdem gerieten lernschwache, kranke, arme und uneheliche Menschen schnell in den Fokus von Lehrern, Ärzten und anderen Amtsinhabern.

Bislang bestand im Lauenburgischen kein Interesse an einer Aufarbeitung dieses sehr sensiblen Aktenmaterials. Es könnte allerdings dazu dienen, ein Denkmal für all diejenigen zu schaffen, die ihr Leben lang unter einem solchen Zwangseingriff gelitten haben: denen Kinderlosigkeit, der Verzicht auf eine eigene Familie, körperliche und seelische Schmerzen und letztlich eine Stigmatisierung in einem überschaubaren örtlichen Umfeld aufgezwungen worden ist.“

Der Workshop des Lebenshilfewerks wird geleitet von Eva Ammermann,  Bildende Künstlerin aus Kuddewörde und Almuth Grätsch, Kulturwerkstatt Lebenshilfewerk Mölln-Hagenow.